Heute habe ich den Entschluss gefasst keinen Sport zu machen. Den Entschluss gefasst, meinem Körper eine Pause zu gönnen.
Was für andere nach einer spontanen Entscheidung klingt – morgens aufstehen und, je nach persönlichem Wohlbefinden, zum Sport zu gehen oder eben nicht – ist für mich seit Jahren eine Herausforderung. Ja, sogar ein Kampf.
Nachdem ich damals aus dem lebensbedrohlichen Untergewicht raus war, habe ich sehr schnell angefangen wieder Sport zu machen. In meinen Augen hat das Sinn ergeben. Der Sport hat mir geholfen mit dem schlechten Gewissen nach dem Essen fertig zu werden. Durch den Sport hatte ich das Gefühl, mir mein Essen verdient zu haben. Und, nachdem ich mich nach und nach immer mehr mit dem Zusammenhang von Sport und gesunder Ernährung auseinandergesetzt habe, wusste ich, dass Jeder, der Muskeln aufbauen will, vernünftig essen muss, was mir meine Zunahme maßgeblich erleichtert hat.
Das Training wurde zu einem festen Bestandteil in meinem Leben und ich war fest davon überzeugt, dass das mein Weg aus der Essstörung ist. Dass ich meine Essstörung überwunden habe.
Strong not skinny – wurde zu meinem Mantra. Es ging so weit, dass ich 2018, obwohl ich in diesem Jahr einen starken Rückfall hatte und sowohl physisch als auch psychisch in keiner guten Verfassung war, entschieden habe als Bikiniathletin auf die Bühne zu gehen und Wettkämpfe zu bestreiten. Training und Ernährung musste ich für den maximalen Erfolg noch genauer aufeinander abstimmen.
Alles musste zu 100% passen. Ich hatte einen Plan, den ich zielstrebig verfolgt habe.
Ausrutscher oder Fehltritte? Gab es nicht. Habe ich mir nicht erlaubt.
Der Erfolg bei meinen Wettkämpfen blieb aus. Zu der Zeit habe ich die Welt nicht mehr verstanden. Ich hatte alles gegeben, permanent versucht alles richtig zu machen und wurde dafür nicht belohnt. Die Schlussfolgerung? Na klar – ich war nicht gut genug. Ich hatte nach den Wettkämpfen keine professionelle Betreuung mehr. Ich habe versucht das mit mir selbst auszumachen und damit fertig zu werden. Nachdem ich monatelang auf die Wettkämpfe hingearbeitet und einen strengen Ernährungsplan verfolgt habe, fiel es mir umso schwerer jetzt wieder Lebensmittel zu mir zu nehmen, die dieser Plan nicht vorgesehen hatte. Auch die Gestaltung meines Trainings im Fitnessstudio hat mich maßlos überfordert. Und so wurde meine Essstörung, von der ich ja eigentlich geglaubt hatte, sie überwunden zu haben, erneut unglaublich laut.
Erstmals habe ich meine Beziehung zum Sport hinterfragt. Mir wurde klar, dass ich meine Essstörung in all den Jahren weder überwunden noch geheilt habe. Ich war so verbissen, so diszipliniert und dann auch so streng mit mir selbst, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie sich meine Essstörung einfach nur verlagert hat und in ein anderes Extrem gerutscht ist. Natürlich war es für mich einfacher einem neuen Schönheitsideal nachzueifern. Zwar nicht mehr lebensbedrohlich untergewichtig zu sein, dafür aber weiterhin zu versuchen die Kontrolle über meinen Körper zu behalten. Ihn zu formen.
So wie er mir gefällt. Und nicht so, wie er sich wohlfühlt. Wie er ideal funktioniert. Wie er gesund ist.
Diese Erkenntnis hat mich so hart getroffen und war so unglaublich schmerzhaft, dass mir klar war, wieso ich sie so lange verdrängt und mir selbst immer wieder gesagt habe, dass das eben mein Weg ist. Und ich jetzt nun mal so bin.
Heute habe ich den Entschluss gefasst keinen Sport zu machen. Den Entschluss gefasst, meinem Körper eine Pause zu gönnen. Weil ich mittlerweile an einem Punkt bin, an dem ich meine Essstörung ganzheitlich heilen möchte. Ich möchte keine Kompromisse, keine Verlagerung und keine Ängste mehr. Und auch wenn ich es mir lange Zeit eingeredet habe und so sehr es schmerzt, aber das ist nicht mein Weg aus der Essstörung. Hier gibt es noch etwas für mich zu lösen.
Sport ist nichts Schlechtes. Ganz im Gegenteil. Doch insbesondere, wenn man eine Vergangenheit mit einer Essstörung hat, ist der Grat zwischen „den Körper fit & vital zu halten“ und „in ein anderes Extrem auszuschlagen“ so schmal.
Wenn du in Tränen ausbrechen könntest, weil du, aus welchen Gründen auch immer, nicht zum Sport kannst; wenn du dir keine Pausen erlaubst; Treffen mit deinen Freunden absagst, weil Sport deine oberste Priorität ist und du natürlich überall deine Tupperdose mitnimmst, um genau das zu essen, was sich scheinbar mit deinen sportlichen Zielen vereinen lässt; dann hat das nichts mit eiserner Disziplin zu tun. Das ist nicht normal. Das ist krank.
Schau dir mal an, was dich dazu bewegt Sport zu machen. Und was in dir vorgeht, wenn du keinen Sport machst.
Ich habe das Gefühl, mir durch den Sport mein Essen zu verdienen. Wenn ich Sport mache, habe ich das Gefühl, ich kann es besser rechtfertigen, dass ich esse. Und wenn ich Sport mache, sind die Stimmen in meinem Kopf still. Ich habe solche Angst, dass ich unglaublich viel zunehme, wenn ich keinen Sport mache. Wenn ich keinen Sport mache, habe ich das Gefühl ich bin faul. Und was denken die anderen von mir? Ich bin doch jetzt die Sportliche. Die Aktive. Wer bin ich denn, wenn das wegfällt?
Du musst dir dein Essen nicht verdienen. Essen ist lebensnotwendig und -wichtig. Ganz egal, ob du Sport machst oder nicht, braucht dein Körper Energie, um dein Überleben zu sichern. Und wenn du die Stimmen in deinem Kopf andauernd nur beschwichtigst, indem du ihnen nachgibst, lösen sie sich nicht auf. Die negativen Glaubenssätze, die du dir gegenüber hast – ich bin faul; ich habe keine Disziplin – das ist Bullshit. Und das ist nur in deinem Kopf. Keiner sagt, dass du die Zeit, die du nicht im Fitnessstudio verbringst, auf der Couch vor der Glotze verbringen musst (und selbst wenn – why not?!). Du kannst etwas Kreatives machen: Mandala, Basteln oder deine Gedanken aufschreiben. Du kannst die Zeit auch mit deinen Herzensmenschen verbringen, die sich wahrscheinlich einfach nur freuen, dass du dir mal wieder Zeit für sie nimmst und dich nicht dafür verurteilen, dass du gerade nicht beim Sport bist.
Deine Essstörung muss ganzheitlich geheilt werden. Ein Leben mit einem Rest essgestörter Verhaltensweisen ist genau das: ein Leben mit einem Rest essgestörter Verhaltensweisen.
Nach wie vor schränkt deine Essstörung dich ein. Hält dich ab dein Leben vollkommen zu leben. Erfahrungen zu machen und glücklich zu sein.
Stell dir vor: du bist 80 Jahre alt. Glaubst du wirklich, du bereust dann die ein oder andere Sporteinheit, die du nicht gemacht hast? Glaubst du wirklich, dir kommt es dann auf dein Sixpack oder deinen knackigen Hintern an?
Wenn du ehrlich zu dir bist und eine gesunde Beziehung zu deinem Körper und auch zum Sport aufbauen möchtest, kommt es auch jetzt darauf an erst einmal stark zu sein. Nicht zum Sport zu gehen und dann alle negativen Gefühle, die hochkommen, auszuhalten. Nicht nachzugeben. Dir immer wieder und wieder zu sagen, dass das alles nur in deinem Kopf ist. Und dann? Wird es einfacher. Du wirst bemerken, dass deine Sorgen unbegründet waren. Dass es gar nicht so schlimm ist. Und du auf einmal viel mehr Zeit für dich und andere Dinge hast. Bis du am Ende wieder einmal erkennst, dass es sich gelohnt hat!
Deswegen: Bitte halte durch. Wir schaffen das zusammen.
Alles Liebe,
deine Saskia
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Eva (Donnerstag, 03 März 2022 21:11)
Sehr gut geschrieben..finde mich (leider) in ganz vielen Punkten wieder. Möchte es gerne schaffen, aber es ist unheimlich schwer den Schritt zu gehen..
Sophie (Freitag, 29 März 2024 15:53)
Wichtiger Beitrag!
Den Sport als letzten Rettungsanker kenne ich sehr gut. Man redet sich ein, dass man die Essstörung und das falsche Bild, welches man dadurch von sich hat, überwunden hat, aber versucht doch noch zwanghaft irgendwie die Kontrolle über sich selbst zu behalten. Alle Rettungsanker loszuwerden ist eine Mammutaufgabe und kostet sehr viel Kraft.