In einem meiner vorherigen Beiträge habe ich geschrieben, dass ein Leben mit ein bisschen Essstörung immer noch ein Leben mit Essstörung ist. Diesen Zustand – ein Leben zu führen, in dem deine Essstörung dich zwar nicht mehr vollkommen, aber immer noch zu Teilen einschränkt und kontrolliert - nennt man Quasi-Recovery.
Stell dir vor du hast eine Erkältung. Deine Nase läuft, du hast Halsschmerzen und fühlst dich etwas erschöpfter als sonst. Mit einer Erkältung bist du nicht ans Bett gefesselt, du kannst deinen Alltag trotzdem bestreiten – einkaufen und arbeiten oder zur Schule gehen. Nachdem du eine große Tasse Tee getrunken oder ein wohltuendes Erkältungsbad genommen hast, geht es dir zeitweise vielleicht sogar richtig gut. Aber wenn du abends ins Bett fällst, fühlst du dich trotzdem ausgelaugt. Du bist nicht vollkommen gesund. Wie schön wäre es frei durchatmen zu können? Dich nicht abgeschlagen zu fühlen? Einfach 100% du selbst zu sein?
Genau das ist Quasi-Recovery.
Im Vergleich zum Beginn deiner Recovery hat sich einiges bereits sichtbar und spürbar verbessert:
- Du hast zugenommen; befindest dich nicht mehr in einem lebensbedrohlichen Untergewicht und hast vielleicht sogar einen BMI im Normalbereich.
- Du isst mehr – auch Lebensmittel, die in den dunkelsten Zeiten deiner Essstörung noch verboten waren.
- Du hast dein Sport- und Bewegungspensum reduziert. Du trainierst nach wie vor, hältst aber auch Restdays ein.
- Deine Konzentration, dein Schlaf und auch die Verdauung haben sich verbessert. Du fühlst dich nicht mehr permanent schlapp; bist kraftvoller.
Das sind nur einige Beispiele, die verdeutlichen können, was du schon alles geschafft hast. Und obwohl du schon so weit gekommen bist, bist du irgendwie nicht glücklich. Du hast das Gefühl deine Essstörung kontrolliert dich nach wie vor. „Überbleibsel“ aus der dunkelsten Zeit deiner Essstörung, wie Regeln oder Routinen, die du befolgen musst, damit die Stimme in deinem Kopf Ruhe gibt, sind immer noch da und bestimmen deinen Alltag. Freiheit ist was anderes…
Viele Betroffene bleiben ein Leben lang in der Quasi-Recovery und erleben das Gefühl von wirklicher Freiheit nie. Auch in meinem Leben gibt es noch viele dieser „Überbleibsel“ aus meiner Essstörung, an denen ich nach wie vor festhalte, obwohl sie mich nicht glücklich machen. Obwohl ich weiß, dass es viel schöner wäre, wenn ich sie ein für alle Mal hinter mir lassen würde.
Und so habe ich mich gefragt, warum es verdammt nochmal so schwer ist den nächsten Schritt zu wagen? Warum ist es so schwer vollständig zu heilen?
Ich glaube es liegt zum einen daran, dass der Heilungsprozess so lang, anstrengend und vor allen Dingen schmerzhaft ist. Liegt es da nicht nahe, dass man sich zwischendurch eine kleine Verschnaufpause wünscht? Dass man sich für einen Moment auf seinem Erfolg ausruhen möchte?
Noch schwieriger macht es die Tatsache, dass wir in der heutigen Gesellschaft mit einigen „Überbleibseln“ aus der Essstörung gar nicht auffallen. Ganz im Gegenteil: unser Verhalten wird sogar anerkannt. Nach außen wirkst du zum Beispiel super fit, wenn du jeden Tag zum Sport gehst. Keiner sieht jedoch, dass dein Verhalten zwanghaft ist und ein Tag ohne Sport dir ein extrem schlechtes Gewissen bereitet. Ein anderes Beispiel: Jemand, der sich permanent gesund ernährt und keine Süßigkeiten isst, wird für seine eiserne Disziplin gelobt. Dass du „ungesunde“ Lebensmittel nur meidest, weil du nach wie vor Angst vor ihnen hast, bemerkt keiner. Kein Wunder, dass wir uns im Zwiespalt befinden und gar nicht wissen, was richtig und was falsch ist.
Die Quasi-Recovery zu verlassen bedeutet deine Essstörung vollständig loszulassen. Wahrscheinlich hast du genau wie ich das Gefühl damit einen Teil deiner Identität zu verlieren. Wer sind wir denn ohne die Essstörung? Was macht uns besonders, wenn es nicht die Essstörung ist? Noch wissen wir keine Antwort auf diese Fragen, weshalb wir uns schlichtweg fürchten den nächsten Schritt zu gehen.
Zu guter Letzt ist die Essstörung für viele ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Solange wir krank sind, und man uns das auch ansieht, machen sich unsere Eltern, Großeltern, Freunde oder der Partner (…) Sorgen um uns. Wenn wir regelmäßig essen und zunehmen, impliziert das automatisch, dass es uns besser geht. Die Sorge um uns lässt nach. Es meldet sich die Stimme der Essstörung, die sich diese Aufmerksamkeit zurückwünscht. Die Stimme kann so laut und stark sein, dass viele Angst haben weiter zu gehen und sogar mit dem Gedanken spielen umzukehren.
Paradox ist, dass wir uns einerseits wünschen gesehen zu werden, andererseits aber Angst haben zu kommunizieren, wie es uns wirklich geht. Die Stimme der Essstörung sitzt in unserem Kopf. Keiner hört sie. Nur wir selbst. Es wäre so einfach uns jemandem anzuvertrauen und darüber zu sprechen, was uns nach wie vor beschäftigt. Und doch halten wir uns oftmals verdeckt, um die Fassade nach außen hin aufrechtzuerhalten und machen damit nicht nur unserem Umfeld, sondern auch uns selbst etwas vor.
Quasi-Recovery gibt uns eine vermeintliche Sicherheit. Mit den „Überbleibseln“ der Essstörung machen wir es uns nämlich leicht, jederzeit zurück zu in die Essstörung zu flüchten, wenn wir unsicher sind oder uns alles über den Kopf wächst.
Aber mal ehrlich: Willst du das? Kein Mensch läuft einen Marathon, um kurz vor der Ziellinie stehen zu bleiben oder auf halbem Weg umzukehren und zurück zum Anfang zu gehen.
Du hast nicht all deinen Mut zusammengenommen und dich für die Heilung deiner Essstörung entschieden, um dich jetzt mit „okay“ zufrieden zu geben. Dafür war der Weg bis hierher zu anstrengend und schmerzhaft. Auch wenn du das Licht am Ende des Tunnels gerade vielleicht noch nicht sehen kannst - ich verspreche dir: es wird da sein!
Du wirst Erleichterung finden. Erleichterung, weil du glücklich sein wirst. Erleichterung, weil du frei sein wirst.
Ich weiß, dass du Angst hast. Die hab ich auch. Das ist für uns:
- Du musst deinen Kalorienbedarf nicht kennen und keine Kalorien zählen. Das Ziel lautet intuitiv zu essen.
- Du wirst geliebt. Nicht für dein Aussehen, sondern für all deine positiven Eigenschaften. Und auch für deine Macken.
- Du bist wichtig. Mach dich und die Heilung deiner Essstörung zur Priorität!
- Du musst nicht an deiner Essstörung festhalten. Die Welt hält so viel Schönes für dich bereit!
- Du musst nicht immer für die kalorienärmste Variante wählen. Du darfst das essen, was dir am meisten schmeckt.
- Du brauchst keine Erlaubnis, um zu essen.
- Du darfst essen, obwohl andere gerade nichts essen oder auf Diät sind.
- Du musst essen, um zu überleben. Essen ist nicht optional.
- Vertraue deinem Körper und achte auf seine Signale. Wenn dein Magen knurrt, musst du nicht überlegen, ob du jetzt essen darfst oder nicht.
- Nur weil du gestern mehr gegessen hast als sonst, heißt das nicht, dass du heute weniger essen musst.
- Es gibt keinen Grund Kohlenhydrate und Fette aus deiner Ernährung zu streichen.
- Mach Sport, weil du Spaß daran hast. Weil du deinen Körper liebst, nicht weil du ihn hasst.
- Vergleich dich nicht mit anderen. Du bist genau richtig so wie du bist!
- Je öfter du dich einer Angst stellst, desto kleiner wird sie.
- Deine Essstörung lügt – du warst nicht glücklicher/nicht schöner/nicht liebenswerter als du dünn warst.
- Du bist so viel mehr als deine Essstörung.
- Die Zahl auf der Waage sagt nichts über deinen Wert als Mensch aus.
- Du musst nicht jeden Tag XXX Schritte zurücklegen. Du darfst dich ausruhen!
- Du musst dir dein Essen nicht verdienen. Du bist kein Tier!
- Dein Körper ist ein Wunder – denke daran, was er jeden Tag leistet, um dich am Leben zu halten.
- Jeden Tag beweist du, wie stark du bist. Du hast schon so viel geschafft.
- Du bist genug. Immer. Genauso wie du bist.
Gehst du mit mir gemeinsam den nächsten Schritt?
The final hurdle is always the hardest,
but also the most worthwhile.
Ein Leben ohne Essstörung ist möglich.
Alles Liebe,
deine Saskia
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