In einer Zeit, in der wir unsere sozialen Kontakte auf ein Minimum beschränken sollten, wird die Bedeutung der Familie vielen noch einmal ganz eindringlich bewusst.
Ich bin aktuell sehr dankbar, dass ich mit meiner Familie unter einem Dach lebe und sowohl meine Eltern als auch meinen Bruder regelmäßig sehen kann. Als wir vor Kurzem abends ganz spontan eine Weile zusammensaßen, uns ausgetauscht und gemeinsam gelacht haben, habe ich bemerkt, welch hohen emotionalen Wert Treffen wie diese heute für mich haben. Ich erinnere mich noch gut an eine Zeit, die nicht nur für mich, sondern auch für meine Eltern und meinen Bruder so herausfordernd war, dass wir als Familie eher in Trennung als in Verbindung zusammen lebten. Ich spreche von den Jahren meiner Essstörung.
Weil ich meine Essstörung heute mit anderen Augen sehe, ein tieferes Verständnis für sie habe und erkenne, dass die Familie auf meinem Weg immer eine wichtige Rolle gespielt hat, möchte ich sie in diesem Beitrag thematisieren.
Obwohl ich selbst noch keine Kinder habe, glaube ich behaupten zu können, dass Eltern sein keine leichte Aufgabe ist. Wenn Kinder ihre Eltern vor zusätzliche Herausforderungen stellen (es versteht sich von selbst, dass eine psychische Erkrankung wie eine Essstörung eine solche Herausforderung darstellt), wird es sogar richtig kompliziert. Eltern fangen an, Gründe oder sogar Schuld bei sich zu suchen. Sie haben Zweifel und fragen sich, was sie verändern können, sollen oder sogar müssen.
Die Klinik als letzte Instanz
Immer wieder erreichen mich Nachrichten von den Angehörigen Betroffener, die Rat suchen. Ich gehe auf meinem Blog und Instagram offen mit meiner Geschichte um, habe von Anfang an tiefe Einblicke gewährt und werde dann häufig gefragt, wie ich es denn bitte geschafft habe, zu Hause gesund zu werden.
Meine Antwort: Ich habe es geschafft, weil ich es wollte. Und mit dem Willen, gesund zu werden, fängt alles an. Ich verstehe, dass sich sowohl Eltern als auch Betroffene selbst von einem stationären Klinikaufenthalt viel versprechen. Wunder erhoffen. Bei mir und meiner Familie war das ja nicht anders.
„Dort gibt es Ärzte. Die wissen sicher, was zu tun ist.“ Nicht mehr zur Last fallen. Das Konfliktpotenzial in den eigenen vier Wänden minimieren. Verantwortung abgeben. Genau da liegt oftmals aber das Problem.
Man darf nicht davon ausgehen, dass Ärzte und Therapeuten es „schon ritzen werden“. Auch sie wenden lediglich das an, was sie während ihres Studiums oder in ihrer bisherigen Berufslaufbahn gelernt haben. Sie verfügen über Wissen, nicht über Wunderheilmittel.
Deswegen ist aus meiner Sicht das Wichtigste, dass der*die Betroffene den Wunsch nach Heilung hat. Ich bin überzeugt davon, dass jeder, der gesund werden will, es schafft. In einer Klinik, aber auch zu Hause. Denn aus dem Willen, gesund zu werden heraus entwickelt sich eine innere Stärke, die einen befähigt, sich mit den Ursachen der Essstörung auseinanderzusetzen und langfristig alternative Handlungsmöglichkeiten zu finden, die aber auch die Stimmen der Essstörung in den Schatten stellt und einen handeln lässt, obwohl es unglaublich schmerzhaft und schwer ist.
Ein stationärer Klinikaufenthalt ist nicht verkehrt. Keinesfalls möchte ich mich dagegen aussprechen. Hier nur der Hinweis, dass ein stationärer Klinikaufenthalt ein Weg ist. Eine Möglichkeit von vielen. Es geht darum, dass Betroffene ihren ganz eigenen Weg finden.
Hinter einer Essstörung stecken keine bösen Absichten
Eltern stellen sich häufig die Frage, warum ihr Kind „seinen Verstand nicht einschaltet“ und „einfach aufhört“, sich so zu verhalten, wie es sich verhält. Wer meine Blogbeiträge regelmäßig liest, weiß inzwischen, dass es bei der Essstörung nicht in erster Linie um das Dünnsein geht. Trotzdem an dieser Stelle noch einmal der Hinweis, dass eine Essstörung für Betroffene eine Funktion erfüllt (z.B. Bedürfnis nach Sicherheit oder Kontrolle, etc.). Man entscheidet sich nicht aktiv dafür, essgestört zu werden oder zu sein.
Eine Essstörung ist keine „böse Absicht“, sondern ein schleichender Prozess, unter dem die Betroffenen genauso leiden wie die Eltern. Eltern fühlen sich machtlos, weil sie nicht in der Haut des Kindes stecken und glauben, nichts ausrichten zu können. Betroffene wiederum fühlen sich machtlos, weil die Essstörung besonders in der „Hochphase“ überwältigend sein kann und ihr Folge zu leisten der einzige Ausweg zu sein scheint.
Natürlich haben auch meine Eltern an meinen Verstand appelliert. Nicht nur einmal. Nein, mehrmals täglich. Über mehrere Jahre hinweg. Dadurch, dass ich einerseits meine Eltern nicht enttäuschen wollte, andererseits aber auch den Druck der Essstörung nicht ausgehalten habe, fühlte ich mich wie zerrissen. Das wiederum verstärkte mein Gefühl, zu versagen, zur Last zu fallen und schuld am Schmerz meiner Eltern zu sein. Noch mehr negative Emotionen, die mich letztendlich nur tiefer in die Essstörung trieben.
Die ewige Schuldfrage
Beide Parteien, sowohl Eltern als auch Betroffene, suchen also permanent die Schuld bei sich. Verzwickt, nicht wahr? Und wer ist am Ende wirklich schuld? Eltern oder Kinder? Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Schuldfrage gerne und oft gestellt wird – von Therapeuten, Ärzten, den Medien, vielleicht sogar Bekannten und Freunden. Bis vor wenigen Monaten habe auch ich noch intensiv darüber nachgedacht, was ich falsch gemacht habe und was meine Eltern schon in meiner Kindheit hätten anders machen sollen.
Erst vor Kurzem habe ich erkannt, dass es gar nicht darum geht, jemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben. Weder mir noch meinen Eltern. Inzwischen spielt es für mich keine Rolle mehr. Ich stelle mir die Schuldfrage nicht mehr. Geschehenes ist geschehen.
Es ist doch viel wichtiger, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Damit meine ich nicht, dass man andere Familienmitglieder, egal ob Geschwister, Eltern oder Betroffene, mit Vorwürfen konfrontiert und ihnen unter die Nase reibt, wie sie sich zu verändern haben, damit das Zusammenleben ein Harmonischeres wird.
Es geht darum, gemeinsam Kompromisse zu finden. Und darum, dass alle an sich arbeiten. „Erstmal vor der eigenen Tür kehren“. Das hat schon Goethe gesagt. Und ganz ehrlich: Es hilft. Schließlich kann man nie andere, immer aber sich selbst verändern. Und wenn man aktiv dabei ist, an sich zu arbeiten, sich in positivem Sinne zu verändern, hilft das irgendwie auch, sich weniger machtlos zu fühlen.
Unterstützung für Angehörige
I know, Veränderung ist alles andere als leicht. Veränderung ist unangenehm. Veränderung kann sogar richtig wehtun. Deshalb, und weil die Essstörung eines geliebten Menschen für das Umfeld gleichermaßen belastend ist, rate ich nicht nur Betroffenen, sondern auch nahestehenden Personen, sich Unterstützung zu holen. So kann man Beratungsstellen, Therapeuten oder Coaches aufsuchen, aber auch mit Gleichgesinnten in Kontakt treten. Wie es mir auf meinem Weg extrem geholfen hat, mich mit anderen Betroffenen auszutauschen, kann ich mir gut vorstellen, dass es auch Eltern hilft, mit den Eltern von anderen Betroffenen zu sprechen oder zu schreiben (das gilt natürlich auch für Geschwister, Partner, Freunde, etc.). ANAD e.V. bietet sogar regelmäßig Workshops an, deren Ziel die Erlangung von mehr Sicherheit im Umgang mit Betroffenen sowie die Vermeidung einer ungewollten Verstärkung der Symptomatik durch die Eltern ist. Aktuell finden diese Workshops online statt.
Kommunikation ist der Schlüssel
Die Essstörung wie auch der Heilungsweg gleichen einem Wechselbad der Gefühle. Das hat in meiner Familie zu vielen Konflikten geführt. Denn mit jedem Stimmungswechsel habe ich mir etwas anderes von meinen Eltern oder meinem Bruder gewünscht. Etwas anderes erwartet. Oder auch nicht erwartet. Freute ich mich am einen Tag über ihr Lob, dass ich es geschafft habe, mein Abendbrot aufzuessen, ging ich deshalb am anderen Tag an die Decke. Das End vom Lied? Irgendwann hat sich, aus Angst etwas Falsches zu sagen oder zu machen, keiner mehr getraut, überhaupt etwas zu sagen oder zu machen.
So schwer es ist: Kommunikation ist der Schlüssel! Es ist so wichtig, offen zu sprechen. Das geht nicht nur an Angehörige, sondern auch an Betroffene! Ich habe mich jahrelang eingeigelt, abgeblockt und bockig reagiert, sobald die Essstörung zur Sprache kam. Erst als ich angefangen habe, über meine Gedanken, Gefühle und mögliche Lösungsansätze zu sprechen, habe ich gemerkt, wie wichtig und hilfreich das ist.
Seither schlage ich Betroffenen und Angehörigen beispielsweise auch vor, „Regeln“ für den gemeinsamen Umgang festzulegen. Welche Themen sind okay? Welche ein absolutes No-Go? Wie viel Kontrolle ist okay? Wo sind die Grenzen? Wie werden Sport und Bewegung gehandhabt? Sollte das Körpergewicht der betroffenen Person im Blick behalten werden? Und wenn ja, von wem? Ein Therapeut oder eine Beratungsstelle kann helfen, durch die richtigen Fragen zu Antworten zu gelangen, aus denen entsprechende Regeln abgeleitet werden können.
Das Leben abseits der Essstörung
Zu guter Letzt möchte ich anmerken, dass es auch noch ein Leben abseits der Essstörung gibt und dass man dieses nicht vergessen darf. Meine Mama und ich sind damals gemeinsam in den Urlaub geflogen, wir haben viele Ausflüge gemacht, sie hat mir Mandalas besorgt oder Geschichten erzählt, die allesamt meinen Horizont erweitert haben und mich entdecken ließen, was mir Spaß macht. Das hat langsam aber sich meinen Lebensmut entfacht und meine Gründe für ein Leben ohne Essstörung ans Tageslicht gebracht.
Auch für Angehörige ist es wichtig, sich in dieser schweren, anstrengenden und schmerzhaften Zeit nicht zu vernachlässigen oder zu vergessen. Auch Angehörige dürfen sich Auszeiten nehmen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Auch für Angehörige ist es wichtig, sich in dieser schweren, anstrengenden und schmerzhaften Zeit nicht zu vernachlässigen oder zu vergessen. Auch Angehörige dürfen sich Auszeiten nehmen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Geben Sie die Hoffnung nicht auf.
Sei es das Kind, die Partnerin, der Partner, die Schwester oder der Bruder – das wahre Selbst des Betroffenen ist hinter der Krankheit verborgen und kommt mit jedem Schritt auf dem Heilungsweg zurück. Ich weiß, dass die Essstörung alles auf den Kopf stellt und verändert.
Doch wie in allem stecken auch darin Chancen, die man vielleicht nicht sofort, eines Tages aber ganz bestimmt, erkennt.
An meine Familie an der Stelle das größte Danke. Ich liebe euch über alles!
Alles Liebe,
Saskia
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Michaela.pukrop@web.de (Dienstag, 31 August 2021 12:26)
Liebe Saskia,
Du hast hier einen wunderschönen Blog Artikel geschrieben. Gerade vor einigen Minuten hatte ich ein Coaching mit einer Mama wo es genau um dieses Thema ging. Klinikaufenthalt, Kontrolle und Vertrauen. Ich bin da genau Deiner Meinung. Heilung kann zuhause geschehen wenn die Mama sich auch Hilfe sucht. Wenn sich nur die Tochter entwickelt wird es zuhause schwierig. Mutter und Tochter spiegeln sich. Das sehe ich immer wieder. So ist es auch mit der Schuldfrage. Beide fühlen sich schuldig. Fühlen sich verantwortlich. Ich denke wenn Mutter und Tochter bzw. die Familie, jeder für sich, Hilfe in Anspruch nimmt lässt sich so manche "Ehrenrunde" vermeiden. Genauso ist so eine schwere Erkrankung auch eine Chance, dass etwas Wunderbares entstehen kann. Sowohl innerhalb der Familie als auch für jeden Einzelnen. So ist es in unserer Familie aber auch in vielen anderen Familien bereits geschehen. Aus jeder Krise wird immer etwas Großartiges entstehen. Wir erkennen und verstehen es jedoch immer erst im Nachhinein.
Du machst eine wunderbare Arbeit.
Ganz liebe Grüße Michaela �