Schon oft habe ich darüber gesprochen, wie positiv sich der Kontakt mit Gleichgesinnten auf meinen Heilungsweg ausgewirkt hat. Wer meine Geschichte gelesen hat, weiß inzwischen, dass ich schon vor Jahren Teil einer „Gemeinschaft“ aus Mädchen mit Essstörung auf Instagram und Facebook war, die sich gegenseitig liebevoll unterstützte und zum Gesundwerden motivierte. Während ich mich viele Jahre allein mit und verurteilt aufgrund der Essstörung fühlte, fühlte ich mich als Teil dieser Gemeinschaft das erste Mal verstanden. Viele der Mädchen waren lebende Beweise dafür, dass Heilung möglich ist, was mich inspirierte und motivierte, ebenfalls für mein Leben ohne Essstörung loszugehen.
Dass das Thema Essstörung in der digitalen Welt präsent ist, habe ich eher durch Zufall entdeckt.
2010 war nicht nur das Jahr, in dem ich an Bulimie erkrankte, es war auch das Jahr, in dem Instagram an den Start ging. Eines Tages bin ich im Entdecken-Bereich auf mit Essstörungen assoziierte Hashtags gestoßen: #Anorexie, #Bulimie oder #ana und #mia. Ob Recovery-Accounts, wie es sie heute zu genüge gibt, damals schon existierten, weiß ich nicht. Was ich unter diesen Hashtags damals vor allen Dingen entdeckte, waren Beiträge von Accounts, die alles andere als Pro-Recovery waren.
Nein, viel mehr verherrlichten sie Essstörungen, sprachen sich in ihrer Bio zum Teil sogar für jeden sichtbar pro Ana und/oder pro Mia aus.
Pro Ana und pro Mia - Was ist das überhaupt?
- „Pro“ = Befürworten
- „Ana“ = Anorexie, vom engl. anorexia
- „Mia“ = Bulimie, vom engl. bulimia
Unter pro Ana und pro Mia versteht man also eine Bewegung im Internet, die Essstörung befürworten und verherrlichen. Sie stellen Essstörungen nicht als psychische Erkrankung, sondern als erstrebenswerten Lifestyle dar. Risiken werden verharmlost oder ausgeblendet und somit gar nicht erst thematisiert. Stattdessen gibt es Abnehm-Tagebücher, Regeln und Gesetze, krankhafte challenges sowie Tipps und Tricks, um die Essstörung möglichst lange unbemerkt und bedingungslos ausleben zu können.
Ich habe mich oft gefragt, wer hinter pro Ana und pro Mia-Accounts steckt. Sind es wirklich Betroffene, die Essstörungen propagieren, obwohl sie ja am eigenen Leib erfahren, wie schmerzhaft und traurig das Leben mit der Krankheit ist? Irgendwie weigere ich mich, das zu glauben. Vielleicht liegt das aber auch einfach an meinem Charakter und der Tatsache, dass ich in jedem Menschen das Gute sehe und niemandem böse Absichten unterstellen möchte. Weil der Großteil dieser Accounts anonym ist, werde ich es womöglich nie erfahren.
Fakt ist, dass als Pseudonyme „Ana“ und „Mia“ genutzt werden. Die Essstörung wird demnach personifiziert, was in all den Beiträgen, Motivationstexten und Briefen, die aus deren Perspektive geschrieben sind, deutlich wird. Im Großteil der Beiträge, Texte und Briefe weisen sich „Ana“ und „Mia“ sogar als Freundinnen aus...
Was Ana und Mia mit mir gemacht haben
Anfangs haben mich pro Ana- und Mia-Accounts irgendwie fasziniert. In ihren Bann gezogen. Bis dato hatte ich mit niemandem über mein Erbrechen, die Restriktion sowie all die Gedanken und Gefühle, die mich seit Monaten umtrieben, gesprochen. Die Accounts zu entdecken und mehr über das Krankheitsbild der „Essstörung“ zu erfahren (wenn auch auf eine völlig verkehrte Art und Weise, aber darum soll es an dieser Stelle nicht gehen) gab dem, was mich beschäftigte, einen Namen.
Die Erkenntnis, dass es da draußen viele andere gab, denen es ähnlich ging wie mir, gab mir das Gefühl, nicht länger allein mit der Essstörung zu sein. Während ich mich außerhalb der digitalen Welt verbarrikadierte, mit niemandem über mein „Problem“ sprechen wollte und sofort abwimmelte, sobald man mich fragte, ob es mir denn wirklich gut ginge, war ich dort frei. Konnte ehrlich sein. Fühlte mich verstanden.
Mit der Zeit verwandelte sich das „Wir-Gefühl“ aber in ein Konkurrenzdenken. Stundenlang schaute ich mir schädliche Bilder an, verglich mich mit den anderen und war der felsenfesten Überzeugung, dass sie dünner, disziplinierter und ja, einfach die besseren Essgestörten waren. Das gab mir immer mehr das Gefühl noch nicht „krank genug“ zu sein und hielt mich noch lange Zeit davon ab, mich auch außerhalb dieser pro Ana- und Mia-Bubble jemandem anzuvertrauen und mir die Hilfe zu holen, die ich dringend gebraucht und natürlich auch verdient hätte.
Immer stärker manifestierte sich in mir auch der Gedanke, dass es tatsächlich so etwas wie „Ana“ und „Mia“ gibt. Ich fing an, meine Essstörung zu vermenschlichen. Ich sah sie nicht mehr als Teil von mir, sondern als etwas, auf das ich keinen Einfluss hatte. Sie wurde zu einer Freundin, der ich um jeden Preis gefallen wollte. Dadurch gab ich ihr eine Macht, die meinen gesunden Anteil lähmte. Irgendwann folgte ich ihren Regeln, Befehlen und Anweisungen einfach, ohne sie noch großartig zu hinterfragen.
Ana und Mia auf dem Heilungsweg
„Ana“ und „Mia“ habe ich jahrelang nicht aus meinem Kopf bekommen. Auch mit Ärzten oder Therapeuten habe ich nie über „meine Essstörung“, sondern immer nur über „Ana“ und „Mia“ gesprochen.
In der Klinik wurde mir zum ersten Mal gesagt, dass es „Ana“ und „Mia“ nicht gibt. Dass es sich dabei schlichtweg um eine Einbildung meinerseits handle und ich endlich aufhören müsse, der Essstörung so etwas wie eine eigene Identität zu geben.
Während ich damals völlig perplex war, weiß ich heute natürlich, dass das stimmt. Hat die Essstörung eine Art eigene Identität, ist es natürlich auch viel leichter, sich mit ihr zu identifizieren. Stellen wir uns zu Beginn des Heilungswegs nicht eh schon die Frage, wer wir ohne Essstörung sind? Hält uns diese Frage sogar nicht gerade selten davon ab, für Heilung loszugehen? Und macht es jede zusätzliche Identifikation mit der Essstörung dann nicht noch schwerer? Denn was bleibt, wenn „Ana“ und „Mia“ nicht mehr da sind? Stille? Leere? Ein großes Loch? Alles schwarz?
Ganz ehrlich: Nein! Der Trugschluss ist nämlich, dass wir erst auf dem Heilungsweg und später, im Zustand vollkommener Gesundheit, herausfinden, wer wir wirklich sind. Wofür unser Herz schlägt. Was uns ausmacht. Also lass dich nicht von der Angst vor dem „Nichts“, das du befürchtest, abhalten. Hab Vertrauen und glaube mir, wenn ich dir sage, dass du so viel mehr bist und sein wirst als deine Essstörung.
Der Kampf gegen die Essstörung
Je stärker mein Wunsch nach Heilung wurde, desto mehr wollte ich mich von „ana“ und „mia“ distanzieren. Ich habe angefangen, sie als Feinde anzusehen und aktiv gegen sie zu arbeiten. So oft hört man vom „Kampf gegen die Essstörung“. Ich verstehe das, weil es sich teilweise ja wirklich wie ein Kampf anfühlt.
Die Essstörung bringt eine Menge Schmerz, Leid und Traurigkeit ins Leben, ist aber eigentlich nur ein Sprachrohr, durch das dein Körper auszudrücken versucht, dass etwas in deinem Leben gerade besonders Beachtung braucht. Restriktion, Fressattacken, Erbrechen oder Unwohlsein haben de facto nichts mit deinem realen Körpergewicht, deiner Kleidergröße oder der Menge an Kalorien, die du zu dir nimmst, zu tun. Hinter der Restriktion, den Fressattacken, dem Erbrechen oder Unwohlsein steckt eine Botschaft, die gehört werden möchte.
Insbesondere im letzten Jahr habe ich gelernt, dass kein Kampf gegen die Essstörung, sondern viel mehr ein aktives Hinschauen erforderlich ist, um nachhaltig und langfristig heilen zu können. In dem Moment, in dem ich erkannt habe, dass die Essstörung sich laut meldet, wenn mein Leben aus dem Gleichgewicht gerät, konnte ich Frieden mit ihr schließen.
Ein sicherer Ort für Betroffene
Als ich angefangen habe, diesen Beitrag zu verfassen, wollte ich eine Passage aufnehmen, in der ich die Gründe aufzähle, aus denen Pro Ana- und Mia-Accounts bzw. -Foren grundsätzlich gesperrt oder verboten werden sollten. Als ich meine Erfahrungen damit im Laufe des Schreibprozesses aber noch einmal reflektiert habe, wurde mir bewusst, dass mein Wunsch nach Heilung an dem sicheren Ort, den diese Plattformen für mich dargestellt haben, gewachsen ist.
Es war ein Ort, an dem sowohl ich als auch andere Betroffene unser Leiden dokumentiert und die Krankheit kommuniziert haben. Ein Ort, an dem wir uns nicht mehr allein fühlten. An dem wir dem, was uns beschäftigte, einen Namen gegeben und dadurch Stück für Stück erkannt haben, dass etwas mit uns nicht okay ist. Dass auch die Verherrlichung dessen nicht okay ist, weil wir im Endeffekt alle nur gebrochene Seelen waren.
Nein, ich möchte solche Plattformen keinesfalls gutheißen. Doch wie alles im Leben hat eben auch dieses Thema zwei Seiten. Für mich und viele andere wäre Heilung nicht möglich gewesen, wenn wir diese Erfahrung nicht gemacht und nicht zuvor das komplette Gegenteil kennengelernt hätten. Und ich denke, dass jede*r Betroffene weiß, dass der Weg der Heilung lang ist. Der Weg zu dem Punkt, an dem man Heilung will, aber auch!
Alles Liebe,
deine Saskia
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