Ein Meilenstein auf meinem Heilungsweg
6 Monate ohne Bulimie
Was denkst du, wenn du das liest? Vielleicht so etwas wie „Krass, das schaffe ich nie.“. Ganz ehrlich? Das habe ich früher auch immer gedacht.
In diesem Blogbeitrag geht es nicht um Selbstbeweihräucherung. Es geht mir nicht darum, Lob oder Anerkennung zu erhalten. Genauso wenig möchte ich dir ein schlechtes Gefühl geben, weil dein Leben nach wie vor von der Bulimie bestimmt wird.
Worum es mir geht, ist dir zu zeigen, was möglich ist, wenn du deine eigenen Begrenzungen hinter dir lässt. Ich möchte, dass du die unbändige Kraft in dir erkennst. Eine Kraft, die stärker ist als deine Essstörung und die dir hilft, diese zu heilen.
Mein Leben mit Bulimie
Die ersten Berührungspunkte mit der Bulimie hatte ich mit zwölf. Wenn ich über meine Geschichte spreche, werde ich immer wieder gefragt, wie ein so junges Mädchen überhaupt auf die Idee kommt, sich nach dem Essen zu übergeben. Es war ein ganz beiläufiger Kommentar, bei dem es eigentlich um meine Reisekrankheit ging: „Wenn es nicht besser wird, steck dir einfach den Finger in den Hals.“. In einer Zeit, in der ich mich in meinem Körper extrem unsicher gefühlt habe, brachte dieser eine Satz meine Welt endgültig ins Wanken.
Am Anfang habe ich mein Handeln nicht hinterfragt. Die Bulimie lief mehr so nebenbei: Phasen, in denen ich mich viel und Phasen, in denen ich mich wenig übergeben habe, wechselten sich ab. Zumindest anfangs. Irgendwann hatte ich nicht mehr das Gefühl, mich „freiwillig“ übergeben zu können. Das Erbrechen wurde zum Zwang. Und wenn es nach dem Essen keine Möglichkeit dazu gab, wurde ich nervös. Mit dem Versteckspiel und der Vorausplanung (Wann kann ich essen und kotzen? Wie viel Zeit habe ich?) haben auch die Essanfälle begonnen. Ich habe mich unglaublich geschämt. Noch schlimmer war aber die Angst, nicht alles loszuwerden und dadurch letzten Endes sogar zuzunehmen.
Nachdem meine Eltern von meiner Bulimie erfahren haben, haben sie mich zu verschiedenen Ärzten und Therapeuten gebracht. Weil ich Normalgewicht hatte, wurde ich in der Regel nicht einmal ernst genommen. „Das ist bestimmt nur eine Phase.“, „Hauptsache das Gewicht ist im grünen Bereich.“, „Das legt sich schon wieder.“. Kommt dir das bekannt vor?
Meine Erfahrungen liegen nun schon ein paar Jahre zurück, weshalb ich inständig hoffe, dass sowohl Ärzte als auch Therapeuten sowie Betroffene selbst inzwischen verstanden haben, dass Essstörungen viele Formen haben können und das Körpergewicht kein gutes Indiz dafür ist, ob eine Essstörung vorliegt oder nicht. Eine Bulimie ist keine Essstörung zweiter Klasse! Ein Mensch, der unter Bulimie leidet, hat das gleiche Maß an Unterstützung und Hilfe verdient wie ein Mensch, der unter Magersucht leidet.
Noch einmal in aller Deutlichkeit: Eine Essstörung hat nichts mit dem Gewicht zu tun!
Die Essstörung als Lösungsversuch
Auch wenn es sich im ersten Moment ziemlich abwegig anhören mag, gab es einen Punkt in deinem Leben, an dem die Essstörung dir gedient hat. An dem dein essgestörtes Verhalten einen Sinn hatte. Es war ein Lösungsversuch, um mit unangenehmen Gefühlen oder Lebenssituationen umzugehen. Den Kopf über Wasser zu halten. Nicht unterzugehen.
Eine Essstörung ist in erster Linie also eine Bewältigungsstrategie. Und weil diese Strategie so gut zu funktionieren scheint, wird sie an ganz vielen späteren Punkten des Lebens angewendet.
Vielleicht bist du kein Fan davon, deine Vergangenheit zu durchforsten. War ich auch nicht. Immerhin ist die Essstörung jetzt da. Ist es dann nicht viel wichtiger, auch jetzt in diesem Moment aktiv zu werden, statt in längst Verfangenem zu wühlen? Klar ist und bleibt eine Essstörung eine Ess-Störung. Es ist wichtig, das Verhalten in der Gegenwart zu hinterfragen sowie gegebenenfalls zu verändern, um körperlich heilen zu können.
Emotionale Heilung ist meiner Meinung nach aber erst dann möglich, wenn du dir bewusst wirst, inwiefern deine Essstörung dir dabei geholfen hat, mit Gedanken, Gefühlen oder bestimmten Situationen umzugehen. Wenn du erkennst, welche Funktion sie für dich erfüllt oder erfüllt hat, kannst du die Essstörung als Bewältigungsstrategie Stück für Stück loslassen und durch neue, gesunde Verhaltens-, Denkmuster und Strategien ersetzen.
Frage dich, wann deine Essstörung das erste Mal da war. Wann du aufgehört hast, dich in deinem Körper zu Hause zu fühlen und den Wunsch hattest, etwas an deinem Körper zu verändern. Wann Essen für dich zum Problem geworden ist.
Den Ursprung der Essstörung finden
Vielleicht stellst du fest, dass du dich nicht daran erinnern kannst. Mach dir keinen Druck, wenn erst mal nichts kommt. Bei mir hat es mehrere Jahre gedauert, bis ich den Ursprung meiner Essstörung erkennen und mich an die Situation zurückerinnern konnte, von der ich dir vorhin erzählt habe. Das liegt daran, dass wir Menschen unangenehme oder schmerzliche Erfahrungen in unser Unterbewusstsein abschieben. Bei dieser Verdrängung handelt es sich um einen fundamentalen Abwehrmechanismus, der unser seelisches Überleben ermöglicht. Erfahrungen, die in unserem Unterbewusstsein abgespeichert sind, sind nur sehr schwer zugänglich. Es kann also sein, dass du mehr als einen Anlauf brauchst.
Mir persönlich haben Meditationen geholfen, Zugang zu meinem Unterbewusstsein und den dort liegenden, verdrängten Erfahrungen zu finden. Aber: Auch das war ein Prozess. Vertraue darauf, dass alles zum richtigen Zeitpunkt kommt. Ein weiteres Tool, das ich auf meinem Heilungsweg genutzt habe, um meine Vergangenheit zu reflektieren, war die Lebenslinie.
Nimm dir ein großes Blatt Papier und zeichne auf der Zeit-Achse alle (positiven und negativen) Ereignisse von deiner Geburt bis heute ein, an die du dich erinnern kannst, weil sie für dich wichtig oder prägend waren. Du kannst chronologisch vorgehen oder erst einmal alles notieren, was dir einfällt und später ordnen. Erinnere dich im zweiten Schritt daran, wie du dich in dem jeweiligen Moment gefühlt hast. Zeichne deine Gefühle zu dem jeweiligen Ereignis auf der Wohlbefinden-Achse ein. Je tiefer du auf der Wohlbefinden-Achse bist, desto trauriger, verlassener und schlechter hast du dich gefühlt und umgekehrt. Am Ende kannst du die Punkte zu einer Linie verbinden.
Nimm dir für diese Übung Zeit und sorge dafür, dass du ungestört bist. Es kann sein, dass viele Emotionen hochkommen, weil bestimmte Erfahrungen besonders schmerzhaft waren. Es geht nicht darum, bestimmte Situationen noch einmal zu durchleben, geschweige denn zu bewerten. Worum es in erster Linie geht, ist wahrzunehmen. Vergiss nicht, dass diese Erfahrungen in der Vergangenheit liegen und du jetzt, heute, hier, in diesem Moment absolut sicher und geborgen bist. Selbstverständlich kannst du dich bei dieser Übung von deinem Therapeuten, einem Coach oder einer Vertrauensperson unterstützen lassen.
Wenn du erkennst, wo die Ursprünge deiner Essstörung liegen, welche Erfahrungen dazu geführt haben, dass du die Essstörung als Bewältigungsstrategie gewählt hast, kann dieses „Programm“ nicht mehr unterbewusst laufen. Du hast es an die Oberfläche gebracht und ihm damit die Macht genommen. Von nun an kannst du wählen, ob du dieses „Programm“, deine Bewältigungsstrategie, die Essstörung nutzen möchtest oder nicht.
Wie du zu deiner wahren Essenz zurückfindest
Ich sage nicht, dass ab diesem Moment alles kinderleicht wird. Worum es geht, ist, dass du anfangen kannst, dein Leben zu steuern. Du kannst anfangen, deine Gedanken, Gefühle und Handlungen zu hinterfragen. Aber auch zu vergeben. Verstehen, dass es einen Zeitpunkt in deinem Leben gab, an dem du es nicht besser wusstest. Du kannst verletzte Anteile heilen und damit zurück zu deiner wahren Essenz finden.
Je mehr ich mich an Erfahrungen aus meiner Vergangenheit erinnerte, desto besser habe ich die Zusammenhänge in Bezug auf die Essstörung verstanden. Ich habe angefangen, mit meinem inneren Kind zu arbeiten. Bin gedanklich in bestimmte Situationen zurückgereist, in denen ich mir als Kind oder Jugendliche eine liebevolle Umarmung und jemanden gewünscht hätte, der mir sagt, dass ich eine andere Wahl habe. Ich habe mich gefragt, was ich in meinem Leben wirklich haben oder glauben möchte. Ich habe meinem inneren Kind andere Optionen, andere Bewältigungsstrategien als die Essstörung aufgezeigt. Ich habe ihm gesagt, dass es jederzeit geliebt und beschützt ist. Dass es Halt im Innen findet, wenn es die Welt um sich herum als bedrohlich empfindet. Diesen Prozess habe ich als tief transformierend erlebt.
Der Umgang mit Rückfällen
Gerade bei der Bulimie darfst du verstehen, dass Rückfälle dazugehören. Dass sie normal sind. Ein Bestandteil auf deinem Heilungsweg. Eine Zeit lang hatte ich eine App auf dem Handy, die mitgezählt hat, wie viele Tage ich es schaffe, mich nach dem Essen nicht zu übergeben. Und jedes Mal, wenn ich dem Druck nicht standgehalten und der Bulimie nachgegeben habe, habe ich die Tage in dieser App wieder auf 0 gestellt. Ich habe mich wie ein Versager gefühlt. Mich verurteilt, weil ich es wieder nicht geschafft habe.
Was du verstehen darfst, ist, dass du nicht wieder bei 0 anfängst. Du darfst da weitermachen, wo du jetzt gerade bist. Ein Rückfall ist kein Grund, all das, was du bis hierhin geschafft hast, aufzugeben oder abzuwerten. Du kannst verdammt stolz auf dich sein.
Aus meiner Sicht geht es auch gar nicht darum, möglichst lange durchzuhalten. Das würde nur den Druck und Anspruch an dich selbst erhöhen. Deinen Perfektionismus triggern. Versuche, im Hier und Jetzt zu leben und zu heilen. Konzentriere dich lieber auf jeden einzelnen Tag als auf den gesamten, schier nie enden wollenden Weg. Sage nicht „Ab heute werde ich mich 6 Monate lang nicht mehr übergeben.“, sondern „Heute werde ich mich nicht übergeben.“. Und irgendwann blickst du zurück und kannst dich gar nicht mehr daran erinnern, wann du das letzte Mal erbrochen hast. Schritt für Schritt. In deinem ganz eigenen Tempo.
Bin ich jetzt geheilt von der Bulimie?
Wer bestimmt eigentlich, was „Heilung“ bedeutet? Ist Heilung der Moment, in dem man ein gesundes Gewicht erreicht? Ist Heilung der Moment, in dem Essen kein Problem darstellt? Oder der, an dem man mit sich und dem eigenen Körper absolut und zu 100 % im Reinen ist?
Inzwischen stelle ich mir meine Essstörung wie eine Matrjoschka vor. Matrjoschkas, die russischen Puppen, die ineinander schachtelbar sind. Wann immer eine "Hülle" fällt, kommt eine Neue zum Vorschein. Essanfälle und das Übergeben sind inzwischen kein Problem mehr für mich. Dafür darf ich mir nun andere Themen anschauen. Meinen Wunsch nach einem dünnen Körper, negative Glaubenssätze, innere Überzeugungen, meinen Hang zum Perfektionismus und und und...
Die Bulimie ist ein Teil von mir. Nicht mehr aktiv, aber irgendwie trotzdem noch da. Hin und wieder kommen alte Gefühle und Gedanken hoch. Auch wenn ich diesen nicht mehr nachgebe, zeigen sie mir in aller Deutlichkeit, dass ich weiterhin achtsam bleiben und auf mich aufpassen darf. Ich nehme diese Emotionen wahr und hinterfrage sie. Warum habe ich das Gefühl, die Bulimie jetzt gerade zu brauchen? Was ist gerade los, dass ich mich nach der Bulimie als Bewältigungsstrategie sehne? Weil ich der Essstörung heutzutage mit diesen Verständnis begegne, kann ich sie als Warnsignal wahrnehmen. Ihr nicht mehr nachgeben, sondern dankbar sein, dass sie da ist und sich immer dann, wenn es schwierig wird, meldet und mich darauf aufmerksam macht, dass ich einen Gang runterschalten sollte.
Alles Liebe,
deine Saskia
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Manuela Parisi (Freitag, 01 November 2024 16:02)
Hallo Saskia, ich habe gerade deinen Bericht gelesen.ich selber habe seit knapp 40 Jahren bulimie.dazu sind noch Zwänge,in jeglicher Form, Alkohol und Kaufsucht dazu gekommen.bin seit 2einhalb Jahren trocken.habe etliche Therapien gemacht.bin gerade sehr verzweifelt...ich weiß auch Grad nicht, warum ich dir schreibe....ich finde es großartig wie du es geschafft hast.... liebe Grüße Manuela