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#61 Zurück zur Intuition - Wie du dich vom Kalorienzählen lösen kannst

Als ich 2014 zum ersten Mal den Wunsch hatte, meine Essstörung zu heilen, habe ich immer wieder von Minnie Maud gelesen und daraufhin angefangen, Kalorien zu zählen. Das zwanghafte Zählen hat mich bis vor 2 Jahren beschäftigt. Ich habe nicht einmal während meiner Wettkampfvorbereitung vor mittlerweile vier Jahren aufgehört zu tracken - obwohl ich zu dieser Zeit einen Personal Trainer an meiner Seite hatte, der regelmäßig neue Ernährungspläne für mich ausgearbeitet hat und eigentlich genau wusste, wovon er spricht.

 

Wenn du mich fragst, macht das ganz gut deutlich, worum es mir – und den allermeisten Betroffenen – beim Kalorienzählen ging bzw. geht: Kontrolle. Genauer gesagt darum, Kontrolle zu behalten und nicht vertrauen zu müssen. Weder einem Coach noch dem eigenen Körper und am allerwenigsten sich selbst.

Dein Körper ist keine Maschine

Rückblickend finde ich es erschreckend, dass ich einer App auf dem Handy und einer Fitnessuhr am Handgelenk lange Zeit mehr vertraut habe als meinem Körper. Dass ich ihn behandelt habe, wie eine Maschine und nicht gesehen habe, dass sich seine Bedürfnisse ständig ändern. So wirkt sich bei Frauen der Zyklus auf die Aktivität und den Kalorienverbrauch aus. In der Zeit vor und während des Eisprungs sind wir beispielsweise deutlich aktiver als zu der Zeit, in der sich unser Körper auf die Periode vorbereitet. Während der Periode lässt sich dann aber eine erhöhte Stoffwechselaktivität feststellen, wodurch wir auch im Ruhezustand einen höheren Grundumsatz haben. Und weil wir in dieser Zeit viele Mineralstoffe ausscheiden, benötigt der Körper mehr Energie durch Nahrung. Auch mit den Jahreszeiten verändern sich die Bedürfnisse unseres Körpers. So sind wir im Sommer in der Regel aktiver als im Winter, wo wir es uns drinnen gemütlich machen. Veränderung ist ein Zeichen von Leben. Und was könnte schöner sein als das?

Abgesehen davon ist Kalorienzählen keine Wissenschaft. Deine Zählung ist nur so genau wie die Datenbank, die du verwendest. Für das gleiche Lebensmittel werden dir in unterschiedlichen Datenbanken vollkommen unterschiedliche Werte angezeigt. Oder in unterschiedlichen Supermärkten vollkommen unterschiedliche Nährwerte auf den Produkten angegeben. Während der Essstörung hat mich dieses Detail verrückt gemacht. Ich bin von Laden zu Laden, habe mir von jeder Marke, die das gleiche Lebensmittel führte, die Nährwerte angesehen und versucht das Produkt mit den wenigsten Kalorien zu finden.

 

Dabei sind diese Unterschiede zufällig. Jedes Lebensmittel unterliegt vollkommen natürlichen Schwankungen, die sich nicht beeinflussen lassen. Kalorien der Lebensmittel, die ein Hersteller produziert, werden einmal bestimmt und dann auf die Verpackung oder Konserve gedruckt. Fünf Hersteller von z.B. Kidneybohnen in der Dose haben fünf unterschiedliche Chargen an Kidneybohnen, die an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Bedingungen gewachsen sind und sich somit in ihren Nährwerten unterscheiden. Nur weil auf einer Konserve 70 kcal steht und auf der anderen 150 kcal heißt das nicht, dass das für deine Konserve zutrifft, sondern, dass es bei einer Konserve mal so war. 

 

Was ich dir damit sagen möchte, ist, dass du Sicherheit aus etwas schöpfst, das nicht sicher ist. Dass du diese Sicherheit im Außen brauchst, weil dir deine innere Sicherheit abhandengekommen ist. Und dass das Kalorienzählen dementsprechend eher einen symbolischen Wert hat: Es geht um Kontrolle.

Wieso du mit dem Kalorienzählen aufhören solltest:

Das Gegenteil von Kontrolle ist „Vertrauen“ und wenn du meine Blogartikel regelmäßig liest, weißt du, dass ich immer wieder betone, wie wichtig Vertrauen auf dem Weg der Heilung ist. Nicht nur, weil wir beispielsweise nur dann wirklich offen für Hilfe und Unterstützung sind, wenn wir anderen Menschen vertrauen. Sondern auch, weil wir nur dann wirklich gesund werden und zu einem intuitiven Essverhalten zurückkehren können, wenn wir unserem Körper und seinen Bedürfnissen vertrauen.

 

Wenn wir aufhören zu essen, obwohl wir noch hungrig sind oder uns gegen ein bestimmtes Lebensmittel entscheiden, obwohl wir Lust darauf haben – einzig und allein aus dem Grund, dass es nicht „in unsere Kalorien“ passt – unterdrücken wir unsere Intuition. Die Intuition kannst du dir wie einen Lautstärkeregler vorstellen, der mit jedem Mal, wo wir unsere Intuition unterdrücken, leiser und mit jedem Mal, wo wir ihr zuhören, lauter gedreht wird.

 

Anfangs hatte ich den Wunsch, zu meiner Intuition zurückzufinden, weil ich frei sein wollte. Weil ich es leid war, nach den Regeln der Essstörung zu leben. Und weil ich endlich essen wollte, worauf ich Lust hatte und nicht mehr, was mein Kalorienzähler mir erlaubte.

Recht schnell habe ich dann aber festgestellt, dass mir die Intuition nicht nur beim Essen, sondern auch in anderen Bereichen meines Lebens dient: Um gute Entscheidungen treffen zu können, die aus mir und nicht aus der Essstörung kommen. Um durch die damit einhergehende Selbstbestimmtheit mehr Selbstbewusstsein und Liebe entwickeln zu können. Um Gefühle, Eigenschaften und Handlungen anderer Menschen zu erfassen. Um durch die damit einhergehende bessere Menschenkenntnis aufrichtige Freundschaften, eine ehrliche Beziehung und tiefe Liebe entwickeln zu können.

 

Um zu unserer Intuition zurückzufinden, müssen wir ihr eigentlich „nur“ zuhören. Das ist bei all den Regeln, die uns die Essstörung im Laufe der Zeit auferlegt hat, und dem Stress, der uns im Alltag begegnet, aber gar nicht so einfach. Es ist wichtig, dir Zeit zu geben und nicht zu erwarten, dass du von heute auf morgen intuitiv entscheiden oder essen kannst. Vertrauen zu einem Mitmenschen entsteht nicht von heute auf morgen. Insbesondere, wenn dieses Vertrauen in der Vergangenheit mehrmals verletzt wurde. Vertrauen zu deinem Körper, seinen Bedürfnissen und der Intuition entsteht ebenfalls nicht von heute auf morgen. Insbesondere, wenn dieses Vertrauen in der Vergangenheit mehrmals verletzt wurde...

 

Dich vom Kalorienzählen zu lösen, kann ein erster Schritt sein, zu deiner Intuition zurückzufinden. 

Wie du dich vom Kalorienzählen lösen kannst:

Nach meiner Wettkampfdiät und den Wettkämpfen habe ich meine Kalorienzufuhr Ende 2019 zwar gesteigert, trotzdem aber nach wie vor sehr restriktiv gegessen und unglaublich viel Sport gemacht. Das ging eine bis maximal zwei Wochen gut, dann überkam mich der Heißhunger, ich hatte einen Essanfall, habe mich übergeben und es ging von vorne los. Restriktion, Kompensation, Heißhunger, Essen, Erbrechen. Immer und immer wieder.

 

Obwohl meine Intuition zu diesem Zeitpunkt kaum hörbar war, habe ich gespürt, dass das Kalorienzählen und die damit verbundene Restriktion Auslöser für meine Ess-Brech-Anfälle war. Der Leidensdruck wurde so groß, dass ich alles dafür getan hätte, diesen Teufelskreis zu beenden – auch mehr essen. Und zunehmen. Ich wusste einfach, dass ich mich nie wieder so fühlen möchte und habe meine App zum Kalorienzählen deshalb von heute auf morgen gelöscht.

 

Ich weiß, wie das klingt. Als wäre es mir ganz leicht gefallen. Das ist es definitiv nicht! Es war ein Prozess, bei dem ich mich anfangs an die Mahlzeiten gehalten habe, die ich kannte und von denen ich in etwa wusste, wie viele Kalorien sie haben. Erst mit der Zeit habe ich mich getraut, neue Komponente hinzuzugeben – ein Stück Schokolade hier, ein bisschen Soße da.

 

Das Paradoxe war, dass je mehr ich mich herausgefordert und auf die Bedürfnisse meines Körpers gehört habe, desto weniger habe ich das Kalorienzählen vermisst. Natürlich hatte ich am Anfang täglich ein schlechtes Gewissen. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass das vorbeigeht und so war es. Mit jedem Mal, wo ich es geschafft habe, das schlechte Gewissen auszuhalten, konnte ich ein kleines bisschen Kontrolle im Außen loslassen. Mit jedem Mal, wo ich es geschafft habe, das schlechte Gewissen auszuhalten, konnte ich mir ein kleines bisschen innere Stabilität und Sicherheit zurückholen. Mit jedem Mal, wo ich es geschafft habe, das schlechte Gewissen auszuhalten, haben sich die Bedürfnisse meines Körpers weniger bedrohlich angefühlt. Und irgendwann hatte ich kein schlechtes Gewissen mehr.

 

Die etwas sanftere Alternative ist, das Tracken nicht von heute auf morgen, sondern nach und nach einzustellen. Beginne mit deinen Safe-Foods und/oder Lebensmitteln, die ohnehin kaum ins Gewicht fallen: Der Schluck Milch im Kaffee oder Obst und Gemüse. Anschließend wiegst du einzelne Mahlzeiten oder Snacks, dann mehrere Mahlzeiten oder Snacks und am Ende ganze Tage nichts mehr ab. Ganz wichtig: Es gibt keine bessere oder schlechtere Variante. Spüre in dich hinein und schau einfach, womit du dich wohler fühlst. 

"Ich überschlage die Zahlen im Kopf. Was mache ich falsch?"

Dass du die Zahlen am Anfang im Kopf überschlägst, ist übrigens völlig normal und kein Zeichen dafür, dass du etwas falsch machst. Mir ist das auch immer und immer wieder passiert. Anfangs unbewusst, dann immer bewusster, sodass ich mich mit der Zeit dabei erwischen und meine Aufmerksamkeit gezielt auf etwas anderes lenken konnte.

 

Fakt ist nämlich: „Where focus goes, energy flows.“ Solange dein System die Zahlen als relevant für dich einstuft, können und werden sie nicht aus deinem Bewusstsein verschwinden. Und damit dein System versteht, dass die Zahlen nicht mehr relevant für dich sind, musst du entgegen deiner Gedanken handeln. Das Gegenteil von dem tun, was die Essstörung sagt. Denn: Mit jedem Mal, wo wir einem essgestörten Gedanken nachgehen, geben wir ihm die Berechtigung, morgen wieder aufzutauchen.

 

Es ist wichtig, dass du eine zweite Portion ist, auch wenn deine Essstörung überzeugt davon ist, das sei „zu viel“. Es ist wichtig, Pizza zu bestellen, auch wenn deine Essstörung sich lieber für den Salat entscheiden würde. Und es ist wichtig, zum Vollfettkäse zu greifen, auch wenn deine Essstörung weiß, dass die Light-Variante nur halb so viele Kalorien hat. Es wird dir schwerfallen. Einmal, zweimal, dreimal. Doch mit jedem Mal wird es leichter.

"Was, wenn ich zunehme?"

So schön es ist, im Kontakt mit unserer „inneren Stimme“ zu stehen, so beängstigend kann es von Zeit zu Zeit sein. Je deutlicher mein Körper kommuniziert hat, wann er was braucht, desto eher konnte ich auch wahrnehmen, dass er sich nach Lebensmitteln und Mengen zehrt, die ich mir lange Zeit verboten habe. An diesem Punkt trennt sich die „Spreu vom Weizen“: Aus Angst, zu schnell zu viel zuzunehmen, gehen viele Betroffene zurück in die Restriktion und Kompensation. Auch wenn ich das nachvollziehen kann und selbst Phasen hatte, in denen ich mich dabei erwischte, restriktiv und kompensatorisch zu handeln, wurde mir immer bewusster, dass dieses Verhalten meinen Heilungsprozess unnötig hinauszögert. 

 

Obwohl ich Angst vor der Zunahme hatte, habe ich aufgehört, mich dagegen zu wehren. Eine Erkenntnis, die mir dabei geholfen hat, war folgende: Dein Gewicht zu halten, sollte nicht anstrengend sein. Was genau meine ich damit? Wenn es Restriktion, Kompensation, Verbote oder andere ungesunde Verhaltensmuster erfordert, dein Gewicht zu halten, bist nicht du falsch, sondern die Zahl auf der Waage, von der du glaubst, dass sie richtig für dich ist.

 

Das gesündeste Gewicht, das du haben kannst, ist das Gewicht, das dein Körper selbst bestimmt. Das Gewicht, das ohne Manipulation einhergeht und deinen Körper mit all seinen wunderbaren Funktionen bedingungslos arbeiten lässt. Viele sprechen vom Set-Point oder dem biologischen Idealgewicht.

An der Stelle darfst du dir auch noch einmal bewusst machen, wie Hunger und Sättigung funktionieren: Denn Hunger- und Sättigungsgefühle entstehen im Gehirn. Genauer gesagt: Im Hypothalamus. Der Hypothalamus sorgt unter anderem dafür, dass sich unser Körper immer wieder in seinem Set-Point-Bereich einpendelt. Liegen wir darunter, greift der Hypothalamus in unseren Hormonhaushalt ein und sorgt dafür, dass weniger Leptin (=Sättigung) und mehr Ghrelin (=Hunger) ausgeschüttet wird. Appetit und Hunger steigen. Liegen wir darüber, sorgt der Hypothalamus dafür, dass weniger Ghrelin und mehr Leptin ausgeschüttet wird. Appetit und Hunger sinken.

 

Erinnere dich daran, dass dein Körper immer für dich ist und nicht zunimmt, um dich zu bestrafen. Öffne dich für die Möglichkeit, dass er zunimmt, weil er diese Zunahme für seine Heilung braucht. Wenn du einen starken Hunger – egal ob mental oder körperlich – verspürst, hat das einen Grund. Und auch wenn du es nicht hören möchtest, ist dein Körper dann womöglich noch nicht an dem Punkt, an dem er gerne sein möchte und mit dem er optimal funktionieren kann.

 

Auch wenn ich vor 2 Jahren das letzte Mal meinen Kalorienzähler geöffnet und getrackt habe, weiß ich bis heute, wie viele Kalorien eine Banane oder 100 Gramm Magerquark haben. Keine Ahnung, ob diese Zahlen jemals komplett aus meinem Bewusstsein verschwinden. Vielleicht braucht es einfach noch etwas Zeit. Was zählt, ist, dass es heute keine Rolle mehr für mich spielt. Ich würde mich nicht mehr für einen Apfel entscheiden, wenn ich eigentlich Lust auf eine Banane habe. Und die Freiheit, frisches Brot beim Bäcker zu kaufen, auch wenn ich nicht weiß, wie viele Kalorien es hat, war jeden Struggle wert.

 

Traust du dich, diesen Schritt zu gehen? ♥

 

Alles Liebe,

deine Saskia

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Kommentare: 4
  • #1

    Snuuky89 (Dienstag, 05 April 2022 10:00)

    Hallo liebe Saskia �
    Du hast mir den Tag mit deinem wundervollen Blogartikel gerettet.
    Ich habe umgehend diese bescheuerte App gelöscht...
    Ich möchte nur wissen, sollte ich die Waage auch wegschmeißen? Ich habe sehr viel Angst zuzunehmen da ich im Normalgewicht bin...
    Aber anderseits ist das ja auch wieder ein Kontrollwerkzeug und ich möchte doch endlich in das von dir angesproche Vertrauen zu meinem Körper kommen.
    Was denkst du darüber?

  • #2

    Petra (Dienstag, 05 April 2022 18:21)

    Liebe Saskia!
    Ich danke Dir so sehr für diesen wertvollen Beitrag!
    Er ist gerade so passend für mich und gibt mir wieder Mut, nicht aufzugeben und es doch noch zu schaffen, endlich keine Kalorien mehr zu zählen!
    Alles Liebe,

    Petra

  • #3

    Leandra (Dienstag, 05 April 2022 22:16)

    Liebe Saskia, wieder einmal ein Beitrag der mir sehr aus der Seele spricht und mit Gedanken, welche ich mir so noch nicht gemacht habe, gerade was die Kalorienangaben die sich unterscheiden eines gleichen Produktes angeht. Es ist so viel wichtiger zu leben und ich werde definitiv den ein oder anderen Gedanken mitnehmen und beginnen schöne Momente statt Kalorien zu zählen.

  • #4

    Petzi (Mittwoch, 06 April 2022 16:48)

    Einfach nur DANKE für diesen Beitrag. Er kam genau zur richtigen Zeit!!!