Eine der meistgestellten Fragen, die ich auf Instagram oder über das Kontaktformular auf meiner Homepage bekomme, ist: Wie kann ich die Angst vor der Zunahme verlieren?
Und auch wenn es bereits einen Blogartikel gibt, in dem ich auf die Angst vor der Zunahme eingegangen bin, glaube ich, dass man über dieses Thema gar nicht genug sprechen kann.
Deshalb stelle ich dir in diesem Beitrag 4 Dinge vor, die mir auf meinem eigenen Weg aus der Essstörung geholfen haben, die Angst vor der Zunahme zu schmälern und wirklich für Heilung loszugehen.
1.) Erkenne, was hinter der Angst vor der Zunahme steckt
Wenn wir über die Angst vor der Zunahme sprechen, lesen wir häufig von Tipps, wie „gemütliche Kleidung tragen“ oder „Body-Checking vermeiden“. Auch wenn diese Tipps durchaus dazu beitragen können, die Zunahme erträglicher zu machen, helfen sie meiner Erfahrung nach immer nur temporär. Sie versuchen, die Zunahme zu kaschieren, doch wie du aus vergangenen Blogbeiträgen weißt, kann Heilung nur dann stattfinden, wenn wir hinschauen und Licht auf unsere Schatten werfen.
Wenn ich auf dem Weg der Heilung eine Sache gelernt habe, dann ist es folgende: Das Problem ist selten das Problem! Auch hinter der Angst vor der Zunahme steckt nur bedingt die Angst davor, dick zu werden. Die Angst vor der Zunahme spricht für unverarbeiteten Schmerz, alte Verletzungen und limitierende Glaubenssätze, die tief in unserem Unterbewusstsein verankert sind.
Lass uns ein kleines Gedankenexperiment machen: Nimm dir dafür einen Moment Zeit und sieh zu, dass du ungestört bist. Dann reise in die Zeit kurz vor deiner Essstörung zurück und versuche, dich zu erinnern: Welche Menschen waren in deinem Leben? Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit? Was ist damals passiert? Auf einer Skala von 1-10, wie glücklich warst du? Wie hast du dich gefühlt?
Ganz wichtig: Wir reisen nur gedanklich in diese Zeit zurück! Solltest du dich von den Erinnerungen und damit einhergehenden Emotionen überwältigt fühlen, konzentriere dich ein paar Atemzüge lang auf die Luft, die durch deine Nase ein- und durch deinen Mund wieder ausströmt. Dein Atem ist der Anker, der dich zurück in den gegenwärtigen Moment bringen kann.
Vielleicht ist dir aufgefallen, dass du in der Zeit kurz vor deiner Essstörung nicht besonders glücklich warst. Dass Gefühle wie Ohnmacht, Kontrollverlust, Unsicherheit oder Ablehnung präsent waren. Die Essstörung war deine Strategie, mit all diesen Gefühlen umzugehen. Sie zu betäuben, um irgendwie damit klarzukommen.
Du kannst dir vorstellen, dass die Essstörung deine Gefühle pausiert und sie wie ein Lautstärkeregler auf stumm geschalten hat. Auch wenn das kurzzeitig funktioniert hat, konnten diese Gefühle deinen Körper nie verlassen. Bedeutet, dass sie nach wie vor in dir gespeichert sind und zum Vorschein kommen, wenn wir heilen. Denn zu heilen bedeutet, wieder auf „Play“ zu drücken, die Lautstärke aufzudrehen, Gefühle fließen zu lassen.
Das ist der Grund, aus dem wir auf dem Heilungsweg mit unangenehmen alten Gefühlen konfrontiert werden und wieso die Angst vor der Zunahme nur bedingt die Angst vor dem Dicksein oder -werden ist. Es ist vielmehr die Angst vor einem erneuten Schmerz. Davor nicht mehr geliebt zu werden. Weniger wertvoll zu sein. Die Kontrolle zu verlieren oder abgelehnt zu werden.
Dein Unterbewusstsein ist überzeugt davon, dass für dich keine Gefahr besteht, dich angespannt, unsicher oder bedroht zu fühlen, solange du an der Essstörung und deinem jetzigen Körper festhältst. Was du verstehen darfst, ist, dass du nicht mehr der Mensch von damals bist. Du bist nicht mehr das verletzte Kind, das seiner Umwelt machtlos ausgeliefert ist. Du kannst dir heute mit mehr Wissen und Verständnis begegnen. Andere Umstände und Menschen in deinem Leben willkommen heißen, die dir ein gutes Gefühl geben. Du kannst die Entscheidung treffen, anders als damals auf deine Gefühle zu reagieren und dadurch neue Erfahrungen machen, die dir zeigen: Du brauchst keine Angst zu haben – weder vor der Zunahme noch vor einem erneuten Schmerz. Du kannst mit allem, was kommt, umgehen.
2.) Versuche, die Zunahme positiv zu assoziieren
Das Wort „Zunahme“ ist für Betroffene von Essstörungen in der Regel sehr negativ behaftet.
Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass das Wort „Zunahme“ für Menschen generell sehr negativ behaftet ist. Also nicht nur für diejenigen, die eine Essstörung haben oder unter einem essgestörten Verhalten leiden.
In einer Welt, in der überall Produkte zum Abnehmen an den Pranger gestellt werden, Menschen wie selbstverständlich ihr Gewicht oder Essverhalten kontrollieren und dem Schlanksein einen überlegenen moralischen Wert zuordnen, ist es natürlich umso schwerer, sich auf eine körperliche Veränderung einzulassen. Für mich hat sich die Zunahme oft angefühlt, als würde ich gegen den Rest der Welt kämpfen und – machen wir uns nichts vor – das ist wirklich kein schönes Gefühl.
So sehr sich ein Anteil in dir vor der Zunahme fürchtet, sich dagegen wehrt und davor sträubt, gibt es vielleicht auch einen Anteil, der etwas Positives darin erkennt.
Eine Kleinigkeit, die mich dabei unterstützt hat, der Zunahme mit weniger Misstrauen zu begegnen, war die Zunahme nicht länger als „Zunahme“, sondern als „körperliche Veränderung“ zu bezeichnen. Für mich hatte das Wort „Zunahme“ etwas Schweres. Erdrückendes. Etwas, das kaum auszuhalten ist. Das Wort Veränderung birgt einen Raum, den wir ganz nach unseren Wünschen und Vorstellungen neu, schön und behaglich einrichten können. Denn wer sagt schon, dass diese Veränderung etwas Schlechtes sein muss?
Die Periode wieder bekommen. Nicht mehr ständig frieren. Besserer Schlaf. Weniger Food-Focus. Starke Haare und Nägel. Mehr Kraft für Hobbys und Menschen, die man liebt. Oder körperliche Gesundheit.
Wenn du mich fragst, sind das Dinge, die sich alles andere als schlecht anhören. Und ich weiß, dass du im Augenblick noch daran zweifelst, dass diese Dinge wirklich wahr werden. Aber darum geht es an dieser Stelle gar nicht. Erlaube dir groß zu träumen und dich zu fragen, was möglich wäre, wenn du vollkommen angstfrei bist und es nichts gibt, das dich stoppen könnte.
Weil wir diese positiven Aspekte in kritischen Situationen oft nicht griffbereit haben, sie ausblenden, vielleicht sogar ausblenden wollen, kann es helfen, sie über ein Vision Board, tägliches Journaling oder ein motivierendes Hintergrundbild auf dem Smartphone zu vergegenwärtigen.
3.) Fang an zu leben
Wie du weißt, bin ich ein Freund davon, der Essstörung mit Verständnis zu begegnen. Es kann einen großen Unterschied machen, zu wissen, was hinter der Essstörung steckt. Warum man so denkt und fühlt, wie man nun mal denkt und fühlt. Bei all der Theorie vergessen einige jedoch die Praxis, sprich die Umsetzung. Oft glauben wir, dass noch mehr Wissen und Vorbereitung notwendig sind, um uns bereit zu fühlen. Die Wahrheit ist aber: Du wirst dich nie bereit fühlen. Die körperliche Veränderung zuzulassen ist schwer und das darfst du annehmen. Es ist wichtig, trotzdem loszugehen, weil du nur so neue Erfahrungen machen kannst. Erfahrungen, die größer sind und mehr bedeuten als die Angst vor der Zunahme.
In all den Jahren mit der Essstörung hatte ich weder Kraft noch Lust, Freunde zu treffen, Dinge zu unternehmen, etwas Neues auszuprobieren oder zu verreisen. Die Essstörung hat mich bei jedem Schritt begleitet, in meinem Handeln beeinflusst und irgendwann vollkommen eingenommen. Die Recovery hat mir Freiheit zurückgebracht. Die Freiheit, auch mal „Ja“ zu sagen, etwas zu erleben, spontan zu sein und zu genießen. Diese Dinge haben die Angst vor der Zunahme nicht ausgelöscht, aber sie haben sie minimiert und mit der Zeit in den Hintergrund treten lassen.
Und zwar, weil es dabei nie eine Rolle gespielt hat, was ich anhabe, wie ich aussehe, wie viel oder wenig ich esse und wie viel oder wenig ich wiege. Geblieben sind die Erinnerungen an schöne Momente, wertvolle Erkenntnisse, gemeinsame Erfolge, tiefgehende Gespräche und unvergessliche Erlebnisse.
In kritischen Situationen konnte ich mir die Frage stellen, ob ich wirklich bereit bin, all das gegen einen möglichst dünnen Körper einzutauschen? Und die Antwort war immer dieselbe: Nein. Was ich sagen möchte, ist: Je mehr Tiefe du deinem Leben gibst; je mehr du lebst, desto irrelevanter werden dein Körper, dein Aussehen, letztlich auch die Essstörung.
Doch nicht nur das. Es gibt einen weiteren Punkt, der an dieser Stelle wichtig ist. Die Angst vor der Zunahme zeigt, dass du nicht im gegenwärtigen Moment bist. Die Zunahme mag zwar eine Folge deiner Handlungen im Hier und Jetzt sein, passiert allerdings immer erst in der Zukunft. Sie ist ein Prozess, der nicht explosionsartig, sondern schrittweise stattfindet. Und es mag sein, dass du zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bereit dafür bist, aber wie sagt man so schön: Man wächst mit seinen Aufgaben! Soll heißen, dass auch du dich auf deinem Weg aus der Essstörung weiterentwickelst, dich selbst besser verstehen lernst und erkennst, zu welchen Dingen du in der Lage bist. Zum jetzigen Zeitpunkt musst du nicht bereit für die Zunahme sein, doch ich verspreche dir: Du wirst bereit werden. Du wirst mit allem, was kommt, umgehen können.
4.) Energie folgt Aufmerksamkeit
Vielleicht hast du schon einmal folgenden Spruch gehört: „Where attention goes, energy flows.“, was in etwa so viel bedeutet wie: Energie fließt dorthin, worauf sich unsere Gedanken richten. Man kann also sagen, dass Gedanken Energie sind. Aber was bedeutet das konkret?
Wenn wir von einem simplen Gedanken wie „Ich möchte ein Glas Wasser trinken.“ ausgehen, setzt dieser Gedanke eine Vielzahl von kleinen Handlungen in Gang. Wir unterbrechen das, was wir gerade tun, stehen auf, gehen in die Küche, nehmen uns ein Glas, schenken Wasser ein und so weiter und so fort. Aus einem einzigen Gedanken wurde eine Vielzahl von Handlungen, über die wir nicht großartig nachdenken. Wir wissen eben, was zu tun ist, um am Ende das zu bekommen, was wir möchten: Ein Glas Wasser trinken.
Mit jeder anderen Intention in unserem Leben ist es genauso. Wenn ich mein Ziel kenne, unternehme ich nahezu automatisch viele Schritte, die mich diesem Ziel näher bringen. Natürlich funktioniert das Prinzip nicht nur in die eine, sondern auch in die andere Richtung: Beschäftige ich mich weniger mit meinem Ziel als damit, was auf dem Weg dorthin alles schief gehen könnte, wird meine Angst so groß, dass sie mich lähmt, in meinen Handlungen beeinflusst oder im schlimmsten Fall handlungsunfähig werden lässt.
Was bedeutet das nun für die Angst vor der Zunahme?
Viele Betroffene beschäftigen sich intensiv mit den Gründen, die gegen eine Zunahme sprechen. Die Aufmerksamkeit liegt auf den Dingen, die sie vermeintlich verlieren, wenn sie sich auf die körperliche Veränderung einlassen. Aus diesen Gründen aka Gedanken entsteht entweder eine Handlungsunfähigkeit, die uns daran hindert, für Heilung loszugehen, oder aber eine Art Kompromiss.
Auf dem Weg aus der Essstörung sieht dieser Kompromiss oft so aus:
→ Wenn ich schon zunehme, dann nur mit gesunden Lebensmitteln und Sport.
→ Wenn ich schon zunehme, dann nur Muskeln und kein Fett.
→ Ich nehme zu, aber nur bis zu einem Gewicht, das für mich halbwegs okay ist.
Wir gehen auf der einen Seite also los, zügeln uns auf der anderen Seite aber wieder. Wir machen Sport, ernähren uns möglichst clean, kaufen Light-Produkte, wiegen uns und zählen Kalorien, damit nichts aus dem Ruder läuft. Damit wir weiterhin alles unter Kontrolle haben.
Dadurch ergibt sich eine Art Wechselwirkung: Der Ursprungsgedanke „Ich darf nicht zunehmen.", beeinflusst unser Handeln, wohingegen unser Handeln den Ursprungsgedanken bestärkt. Denn was vermitteln wir unserem Unterbewusstsein, wenn wir zwanghaft Sport machen, Light-Produkte kaufen, unser Gewicht kontrollieren und Kalorien zählen? Richtig, dass zuzunehmen etwas Furchtbares ist, das auf keinen Fall passieren darf.
Zwei Dinge, die dementsprechend enorm wichtig sind:
1) Eine Vision:
Worauf lenkst du deine Aufmerksamkeit? Auf die positiven Aspekte der Heilung und der damit einhergehenden körperlichen Veränderung oder auf das, was du glaubst, durch die Zunahme verlieren zu können? Statt den Raum, den ich unter 2.) angesprochen habe, mit Gedanken zu füllen, die deine Angst schüren, stell dir vor, was möglich wäre, wenn du angstfrei bist. Male den Raum in den buntesten Farben aus, gestalte ihn ganz nach deinen Vorstellungen, träume groß und sage dir: So oder noch besser!
2) Deine Taten:
Stehen deine Handlungen im Einklang mit deinem Ziel oder entfernst du dich dadurch eher davon? Welche deiner Überzeugungen bestärkst du mit der Handlung, die du kurz davor bist, zu tun? Ich weiß, dass es am Anfang eine Menge Überwindung kostet, seltener zum Sport zu gehen, dich von der Waage, vom Kalorienzählen oder von Light-Produkten zu lösen. Doch ich verspreche dir, dass es leichter wird. Weil du deinem Unterbewusstsein mit jedem Mal, wo du dich für den vermeintlich schwierigeren Schritt entscheidest, zeigst: Die Zunahme ist nichts, wovor ich mich fürchten muss. Und irgendwann weißt du: Ich nehme nicht zu. Ich tue lediglich das Richtige. Und mein Körper reagiert darauf.
Alles Liebe,
deine Saskia
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Dörte (Sonntag, 04 September 2022 22:00)
Liebe Saskia,
ich danke dir für deine Worte.
Sie treffen mich ins Herz und sind wirklich sehr hilfreich und ermutigend!
Danke, dass du dir die Zeit zum Aufschreiben genommen hast!
Petra (Sonntag, 04 September 2022 22:50)
Dankeschön für diesen tollen Beitrag, er ist so hilfreich und gibt mir den Mut weiterzugehen! Dankeschön für Deine Mühe und wertvolle Arbeit! ❤
Angela (Montag, 05 September 2022 01:10)
Liebe Saskia, �
vielen Dank für diesen tollen Beitrag!
So wahr, so toll geschrieben und aufschlussreich!
Ich habe vieles wiedererkannt und einiges für mich mitnehmen können.
Vielen Dank für deine Mühe!
LG Angela �
Melanie (Dienstag, 06 September 2022 07:40)
Hallo Saskia,
deine Einträge sind immer Gold wert <3
Immer wenn ich auch nur einen blöden Gedanken hege, steig ich auf deinen Blog ein und schon hinterfrage ich wieder all meine Zweifel und Diätgedanken :-)
DANKE
J (Donnerstag, 23 Mai 2024 12:15)
Nur weil ich aufgehört habe Kalorien zu zählen und zu hungern bedeutet das ja nicht daß ich nicht auch zunehme ...LG, J
Janina (Samstag, 08 Juni 2024 18:14)
Fande Ich auch schön Weil man weiß Man ist nicht arleine das bringt ein positives Denken gegenseitig stärken ❤️
eva (Sonntag, 18 August 2024 21:57)
hallo,
stimmt alles was du schreibst. ich hatte 3 0 Jahre eine essst. es ist mir mit den Jahren alles gelungen. auch ich hab zugenommen. mein rzt sagt zwar das Gewicht ist OK, aber ich fühl mich immer noch zu dick. ich schau eigentlich nicht so aus aber laut BMI bin ich im übergewicht. kann man nix machen. ich Versuche, damit ich gesund bleib zwei Mal die Woche für 30 minutenlaufen zu gehen. ich weiss was schuld ist, dass ich noch jeden morgen zwanghaft auf die Waage steigen muss,erstens dass es so Skalen wie den BMI gibt. die Einteilung der Menschen in Skalen find ich krank. ich muss zwar cholesterinsenkende Medikamente nehmen. aber meine Werte sind nur im grünen Bereich wenn ich am Abend zb nur einen halben Apfel esse. das halt ich aber jetzt nicht mehr nervlich durch mit Kind und Mann und meinen Job als Lehrerin. außerdem ist die Modeindustrie auch schuld. gewisse Modeketten schneidern für 12 jährige aber nicht gut Frauen durch deren Becken schon Mal ein Kind gerutscht ist. ich frag mich aber WARUM? die würden viel mehr verdienen wenn sie gescheite grossen anbieten... und noch frauenfeindliche kurze Tops verkaufen ich meine wer wo zieht man das an? für Buben oder manner gibt's ja auch keine bauchfreien Tops . alles nur um Männern zu gefallen find ich echt bä. und früher vor 1950 war die Mode frauengerechter. nicht nur für megadünne twiggis. man verkühlt sich usw. das Dirndl zb schmeichelt jeder Frau!